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Von Malle zum Sieg

Der Langbahn-Grand Prix von Scheeßel liefert Stoff für einen ganzen Roman. Nach einem turbulenten Tag gibt's einen deutschen WM-Spitzenreiter, ein erschöpftes Weltmeisterteam und einen weitgereisten Debütsieger.


Klingt auf den ersten Blick doch ganz pittoresk. Chris Harris hat für die Anreise zum dritten Langbahn-WM-Grand Prix in Scheeßel einen Zwischenstopp in Palma de Mallorca eingelegt – mitten zur großen Ferienzeit. Kleiner Schönheitsfehler: „Ich habe nur gut fünf Stunden auf dem Flughafen gesessen und da ein bisschen geruht – über Nacht, bevor ich dann am ganz frühen Morgen weiter nach Bremen geflogen bin.“


Harris ist ein Großmeister der knappen und kuriosen Anreisen. Der 42-Jährige aus Truro in Cornwall fährt in beiden Britischen Ligen, dazu noch bei so vielen Gras- und Langbahnrennen wie’s irgend geht. Am Vortag des Scheeßeler Grands Prix ist er in Workington, an der Grenze zwischen England und Schottland, in der Zweiten Britischen Liga unterwegs gewesen, von dort nach Manchester gefahren und via Palma nach Norddeutschland gejettet: Scheeßel liegt gut 50 Kilometer hinter Bremen in Richtung Hamburg.


Nach dem Training von Scheeßel stellt er fest: „Die Bahn ist etwas glatter als sonst. Deswegen bin ich nicht sicher, ob sich’s außenrum wirklich fahren lässt.“ Doch Harris ist ein Außenfahrer wie etwa Max Niedermaier auf dem Eis oder Kai Huckenbeck und Fredrik Lindgren im Speedway. Deswegen startet Harris auch eher mau ins niedersächsische Rennen – geschlagen von Tero Arno und Wildcard-Gaststarter Jörg Tebbe.


Für Tebbe ist der furiose Einstand ein Strohfeuer: Vor seinem zweiten Heat mag der Motor nicht mehr anspringen. Die eilig herangeschaffte Ersatzmaschine kommt für die neue 90-Sekundenregel, binnen derer man es seit 2025 auch in der Langbahn-WM ans Band geschafft haben muss, zu spät am Fahrerlagerausgang an. In der Box fördert die Fehlersuche einen kaputten Stator an der Zündung zutage. Nach einem Lauf auf der zweiten geht's für Tebbe danach wieder auf die reparierte erste Maschine. „Aber danach habe ich irgendwie nicht mehr so richtig reingefunden. Und dann war der Nachmittag auch schon wieder vorbei – so schnell, wie das bei dem neuen Veranstaltungsformat in diesem Jahr alles geht.“


Chris Harris übernimmt im zweiten Anlauf des Finales von Scheeßel das Kommando vor Lukas Fienhage und Andrew Appleton. Foto: FIM
Chris Harris übernimmt im zweiten Anlauf des Finales von Scheeßel das Kommando vor Lukas Fienhage und Andrew Appleton. Foto: FIM

In der Frühphase des Rennens setzt Tabellenführer Zach Wajtknecht die Maßstäbe: Im ersten Heat ringt er in drei Versuchen den vom Start weg führenden Dave Meijerink nieder – in spektakulärer Manier, mit teils drei neuen Anläufen, in den langen Kurven der 1.000-Meterbahn die Maschine in einem noch spitzeren Winkel auf die Innenlinie zu zwingen. Im zweiten Heat holt Wajtknecht sich fast eine halbe Gerade Vorsprung auf den zweitplatzierten Andrew Appleton heraus.


Mit meiner Maschine hätte man den Grand Prix gewinnen können. Aber nicht mit dem Fahrer, der heute draufsaß. – Stephan Katt

Dass der Eichenring sich in diesem Jahr anders präsentierte, fällt auch Martin Smolinski auf. Der Titelverteidiger staunt: „Es ist weniger Material drauf als in den vergangenen Jahren.“ Deswegen müssen seine Mechaniker nach dem Training den Nummer 1-Motor in den Rahmen der Ersatzmaschine verpflanzen, denn der hat aufgrund des Materials eine andere Kraftdurchleitung.


Es wird nur der Auftakt für einen Tag der Vielschrauberei und Hektik in der bayerischen Box werden.


Lukas Fienhage mit dem Langbahn-Pendant zum Gelben Trikot, das ihn nach drei Läufen als WM-Tabellenführer ausweist. Foto: FIM
Lukas Fienhage mit dem Langbahn-Pendant zum Gelben Trikot, das ihn nach drei Läufen als WM-Tabellenführer ausweist. Foto: FIM

Am Tag vorm Grand Prix hat in Scheeßel erstmals ein Lauf zur Flattrack-WM stattgefunden, der bei allen Beobachtern helle Begeisterung ausgelöst hat. Die Flattrackmaschinen verfügen aber sowohl über Bremsen als auch eine andere Motor- und Getriebecharakteristik. Als beanspruchen sie die Bahn auch anders als Langbahnmotorräder: Beim Anbremsen stempeln sie, statt in einem glatten Strich sanft über den Boden zu driften, beim Rausbeschleunigen rupfen sie mehr am Belag. „Deswegen haben sich vor allem am Kurvenausgang ziemlich tiefe Kanten gebildet“, notiert Jörg Tebbe. „Die hat der Bahndienst zwar perfekt wieder zugemacht. Aber schon im Training hat man gesehen, dass sich die Bahn dort anders entwickelt – und nicht einfach zu fahren ist.“


Erstes Opfer: Kenneth Kruse Hansen. Der froschgebackene Grasbahneuropameister von Eenrum muss nach einer einzigen Kurve zumachen, danach ins Krankenhaus gebracht werden. „Er hat schwere Krämpfe in einem Oberschenkel“, verrät Matthias Kröger, der die Rahmen für Hansens Motorräder gebaut hat. „Wahrscheinlich liegt’s am Ischiasnerv, vermutet er. Er hatte dasselbe Problem auch schon in Eenrum. Aber da war die Bahn ein Teppich, hier ist es dagegen eine echte Sandbahn mit allem, was dazu gehört.“


Dass die körperlich in diesem Jahr besonders anspruchsvoll ist, müssen der Reihe nach auch Stephan Katt und Andrew Appleton erkennen. Appleton leidet unter Armpump, Katt unter Krämpfen im Unterarm. „Damit tue ich mich unheimlich schwer, die Maschine am Kurveneingang festzuhalten“, gesteht der Neuwittenbeker. „Mit der Maschine, wie sie heute dasteht, hätte man diesen Grand Prix locker gewinnen können – aber nicht mit mir als Fahrer in der heutigen Form.“


In der Tat: Ein Mal fällt Katt vom ersten auf den dritten, ein Mal auf den vierten Rang zurück. Deswegen scheitert er letztlich am Hoffnungslauf.


Zum Glück konnte ich mich vor dem Einschlag in die Bande noch ein bisschen abrollen. – Martin Smolinksi

Ganz vorn erwächst Lukas Fienhage ab seinem zweiten Auftritt zum Siegfavoriten. In Heat 1 legt er noch einen Cowboystart mit happigem Aufsteiger hin, ist deswegen gegen Appleton und Smolinski von Anfang an chancenlos. Danach klappen die Starts besser. „Da merkt man, dass ihm die Rennpraxis fehlt“, analysiert Fienhages Tuner Robert Barth. „Die Anderen fahren viel öfter als er, deswegen muss Lukas zuerst immer wieder neu reinkommen.“ Das und eine Übersetzungsänderung nach seinem zweiten Heat sorgen dafür, dass Fienhage fürderhin ungeschlagen ins Finale einzieht.


Martin Smolinski muss sich auf dem direkten Einzug ins Finale deutlich mehr schinden – und seine Mechaniker gleich mit: Nach einem zweiten und zwei ersten Plätzen gewinnt er auch Heat 10 – aber nur um Haaresbreite. Zuerst führt Harris in dem Lauf, fällt aber wehrlos hinter den Bayern und Aarnio zurück – und flucht danach lautstark wie ein englischer Kesselflicker im Fahrerlager. Als das Mütchen gekühlt ist, berichtet Harris: „Mir sind der Benzinschlauch gerissen und der Auspuff kaputtgegangen, wir haben danach den Schlauch und das Hosenrohr gewechselt.“


Bei Smolinski ist es mit so wenigen Handgriffen nicht getan: Ein Pleuelschaden hat den Motor dahingerafft, bis zum nächsten Lauf wird der zweite Motor in die Einsatzmaschine umgebaut. Doch als der 40-Jährige damit im letzten Vorlauf gegen Wajtknecht, Meijerink und Jake Mulford sowie den für Kruse Hansen eingewechselten Reservisten Fabian Wachs aus Werlte antritt, stottert der Tauschmotor nur noch, Smolinski wird Letzter – und vermutet eine falsch programmierte gelbe Zündspule, die er zum ersten Mal verwendet hätte, als Ursache. Dennoch rettet er sich als Dritter direkt ins Finale – und die Mechaniker müssen wieder ein neues Aggregat einbauen. „Wir hatten“, lacht Smolinski, „zum Glück noch einen dritten Motor im Auto. Und da läge sogar noch ein vierter.“


Chris Harris bejubelt in Niedersachsen seinen ersten Sieg auf einer 1.000-Meterbahn. Foto: FIM
Chris Harris bejubelt in Niedersachsen seinen ersten Sieg auf einer 1.000-Meterbahn. Foto: FIM

Harris gewinnt den Last Chance-Heat vor Appleton und schaltet so den mit seinen Starts hadernden Meijerink, Aarnio und Katt auf dem Weg ins Finale aus. Im Endlauf übernimmt Fienhage mit einem Blitzstart die Führung. Eingangs der Gegengeraden kommen sich Wajtknecht und Smolinski ins Gehege, der Bayer kracht in einem dramatisch aussehenden Unfall in die Bande. „Zum Glück konnte ich die Maschine noch weglenken und mich vor dem Einschlag in einem Purzelbaum auch ein bisschen wegdrehen.“ So bleibt er bis auf eine Prellung am verlängerten Rücken unverletzt. Im Wiederholungslauf des Finals tritt Smolinski mit onduliertem Motorrad nur an, um mitrollen zu können – und dabei mit passiver Fahrweise den letzten Punkt mitzunehmen.


Wajtknecht wird als Unfallverursacher disqualifiziert – und faucht: „Ich fuhr doch vor ihm – wie soll ich ihn da berührt haben?“ Doch der Schiri macht beim Bristolian einen Linienwechsel auf der Geraden nach links aus. Das ist auf der Langbahn ähnlich verpönt wie in der Formel 1 das „moving under braking“, also das Rüberziehen in die Fahrspur des Hintermannes in der Bremszone – und im Falle der Kollision zwischen Wajtknecht und Smolinski soll das Rüberziehen nach links dafür gesorgt haben, dass Smolinski mit seinem Vorder- am Hinterrad von Wajtknecht eingefädelt hat und deswegen zu Sturz gekommen ist.


Durch den Ausschluss von Wajtknecht ist klar: Fienhage hat beste Chancen, die Tabellenführung zu übernehmen. Doch beim zweiten Anlauf des Finales wird der Niedersachse mit Wahlwohnsitz Südfrankreich von Harris glatt stehengelassen. „Ich weiß auch nicht“, staunt Fienhage, „wo ‚Bomber‘ so einen Start hergeholt hat. Ich habe noch kurz versucht gegenzuhalten, bin dann aber kein Risiko mehr eingegangen. Denn mir war klar, dass auch der zweite Platz reicht. Jetzt habe ich in der Tabelle zwei Punkte Vorsprung. Das ist zwar nichts: nur ein einziger Platz beim Finale. Aber Roden ist eine Bahn, die mir generell liegt. Deswegen bin ich sehr zufrieden, wie’s hier gelaufen ist – und wie nun die Ausgangslage ist.“


Noch zufriedener freilich zeigte sich Scheeßel-Sieger Chris Harris: „Ich bin froh, dass ich endlich auch meinen ersten Sieg auf einer großen 1.000-Meterbahn geschafft habe.“


Das Finale in Roden, südwestlich von Groningen gelegen, findet am 21. September statt. Bis dahin wird es aber auf bahndienst.com noch eine ausgiebige Nachbetrachtung des ganzen Spektakels von Scheeßel in all' seinen vielen Facetten und Storys geben – mit diversen Textmeldungen, verschiedenen Videos und mindestens einem Podcast. Also: Stay tuned!

 
 
 

2 comentarios


Jack Leipsch
Jack Leipsch
vor einem Tag

als Langbahnfan verfolge ich auch die Möglichkeit im Tv, die Rennen zu sehen.

Diese sind leider nur auf englisch(was wir seinerzeit nicht hatten in der Schule)

Deswegen sind die hintergründe sehr wichtig zu lesen warum z.B. ein Hansen plötzlich nicht mehr fuhr und warum der ausschluss von dem Briten gegen Smole.

Dieses sorgt dann bei aufklärung für einen aha-effekt und versteht dann auch zusammenhänge besser. Danke Dafür Herr Ockenga und machen Sie Bitte so weiter, trotz Unkenrufen einiger Besserwisser, die man getrost ignorieren soll und kann. Warte gespannt auf Ihre Fortsetzung!🏁

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Norbert Ockenga
vor einem Tag
Contestando a

Danke! Ich kenne die Qualität des englischen Kommentars von der Langbahn-WM nicht, weiß also nicht, wie viel die Kollegen da rüberbringen können. Klar ist aber ja, wenn man mit den Fahrern spricht, kriegt man auch die nötigen Infos; die dann journalistisch aufzubereiten, will auch gekonnt sein. Freut mich, dass das offenbar so gut ankommt, was wir da mit Bahndienst.com machen. Wir bleiben am Ball!

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