Wallende Emotionen in Ipswich
- Norbert Ockenga
- vor 1 Tag
- 5 Min. Lesezeit
Am Tag nach dem Titelgewinn lässt Ipswich-Boss Chris Louis seinen Gefühlen freien Lauf. Und die beiden Teammanager der Finalgegner analysieren, wie die dramatische Entscheidung fiel.
Es ist schon weit nach 11 Uhr, als Chris Louis sein „Full English Fry-Up“ verputzt hat. „So langsam“, schreibt der Chef unter dem Foto des leeren Tellers in seiner Textnachricht, und wahrscheinlich schmunzelt er dabei gequält und selig zugleich, „geht’s aufwärts.“
Die Kommunikation findet im Stil der Zeit statt: nonverbal. Louis ist in England, sein Gesprächspartner in Paris am Flughafen, in der Wartehalle vor dem Abflug zur Marathonrallye-WM nach Marokko. Textnachrichten dringen klimpernd aus dem Mobiltelefon.
Eigentlich mag Chris Louis lieber Toast mit Marmelade zum Frühstück. Echten „Jam“ halt. Da ist er ganz und gar Engländer.
Aber in der Tat. So ein „Full Monty“, wie das typisch englische Morgenmahl mit Spiegelei, dicker grober Bratwurst, weißen Bohnen in roter Soße, gebratener Tomate und gebratenem Kochschinken sowie gesottener Flönz im Landesjargon auch heißt, ist das perfekte Katerfrühstück. Und das hat Chris Louis am Freitagmorgen gebraucht – nach den Meisterfeiern seines Vereins Ipswich Witches.
Der ehemalige Juniorenweltmeister und Superligafahrer des MC Norden führt den Klub aus Suffolk in zweiter Generation, hat die Promoterrolle von seinem Vater John Louis übernommen – den sie zu aktiven Zeiten „Tiger“ genannt haben: Keiner hat so unerwartete, überfallartige Überholmanöver durchziehen können wie Louis sr., die Engländer charakterisierten seine Art, sich an die Vorderleute auf Samtpfoten anzuschleichen wie ein Tiger an seine Beute. Daher der Spitzname.
Yes mate, sure he was with us last night… – Chris Louis
Als Ipswich vor 27 Jahren zum letzten Mal Britischer Mannschaftsmeister wurde, war John Louis noch der Chef – und sein Sohn Christopher stand im Kader eines wahren Dreamteams, dem auch Tony Rickardsson und Tomasz Gollob angehörten.
Jetzt wird Louis für seine zweite Laufbahn im Speedway gelobt. „Mit Chris Louis kann man unglaublich gut zusammenarbeiten“, strahlt Ipswich-Teammanager Ritchie Hawkins. „Bei allem, was er für den Verein und den gesamten englischen Speedwaysport tut, ist es klar, warum wir das am meisten unterstützte Team des ganzen Landes sind.“
Den entscheidenden Rückkampf des Finales gegen Leicester am Donnerstagabend sahen weit mehr Zuschauer als heutzutage selbst für ein Playoff in England üblich. Von Rekordkulisse zu sprechen, wäre eingedenk der sehr guten alten Zeit glatt Geschichtsklitterei. Aber eine Rekordkulisse der Moderne war’s allemal in Foxhall Heath, und als am Ende die Sicherheitstore an den Banden geöffnet wurden, strömten die Fans in einer Woge zur Siegerehrung wie jene am Millerntor aufs Spielfeld, als der FC St. Pauli vor zwei Jahren in die Bundesliga aufgestiegen ist. „Die Art, wie die ganze Stadt hinter uns steht, und die Menge an regionalen und lokalen Sponsoren – das ist unglaublich“, führt Hawkins weiter aus. „Und das alles geht nur auf die Arbeit von Chris zurück. Man hat am Abend des Finales gesehen, wie viel der Verein der ganzen Stadt bedeutet. Da musste man nur die schiere Anzahl der Zuschauer angucken – und wie sehr die sich alle gefreut haben. Was für eine Woche für die ganze Stadt – und ich fühle mich geehrt, da ein Teil von sein zu können.“
Bei den unterlegenen Lions aus Leicester mischten sich Stolz und Enttäuschung. „Wir sind nicht die Verlierer, wir sind die Zweitplatzierten“, differenziert deren Teammanager Stewart Dickson. „Im vergangenen Jahr haben wir das Finale noch verdient verloren. Dieses Mal hätten wir’s in der eigenen Hand gehabt. Aber wir haben nicht entschlossen genug zugepackt.“

Als eine Schlüsselstelle macht der Grauhaarige gleich Lauf 1 aus. Da schnellen seine beiden Fahrer Max Fricke und Luke Becker klar am besten aus dem Band; der Fahrplan, mit einem klaren Sieg die nötige Aufholjagd direkt anzuschubsen und Ipswich so unter Zugzwang zu setzen, scheint voll aufzugehen. Die beiden Löwen führen deutlich vor Danny King.
Aber Emil Sajfutdinow steht noch wie angewurzelt auf seinem Startplatz. Der Schiri bricht das Rennen ab und macht ein Problem mit der grünen Ampel als Ursache für die Passivität des Russen aus. Er ordnet einen kompletten Neustart an – und nach dem gewinnt zwar Fricke, doch das Duo der Witches trotz Leicester ein Unentschieden ab.
Der Dämpfer beschäftigt Dickson auch am Tag nach der Niederlage noch. „Man kann sich immer einzelne Teile aus den beiden Finalmeeting raussuchen und darüber nachdenken, wie’s gelaufen wäre, wenn dieses oder jenes eben gerade nicht passiert wäre“, philosophiert er. „Zum Beispiel der Abbruch, als wir auf dem besten Wege zu einem 5:1 im ersten Lauf waren – was den perfekten Start bedeutet hätte; einer, von dem man nur träumen kann.“
Doch Dickson macht nicht das, was der Engländer als die Kommunikation der „sour grapes“ kennt: rumlamentieren und sich beklagen. Er stellt nur fest – und schiebt nach: „Ipswich kriegt den Applaus – und das völlig zurecht. Sie können jetzt feiern und den Abend genießen, und das haben sie verdient.“ Dennoch sei er stolz auf seine Mannschaft: „Mir kam es darauf an, dass wir uns nicht wehrlos auf den Rücken legen, die Beine nach oben, und mit 55:35 untergehen. Und die Burschen haben alles gegeben und sich nach Leibeskräften gewehrt.“
Die „27 Years of Hurt“, in denen Ipswich immer wieder am Titel vorbeigeschrammt ist, sind ebenfalls Teil der Stadt- und englischen Sportgeschichte. Denn auf der Insel ist Speedway zwar kein Volkssport mehr, aber deutlich präsenter als in Deutschland. „Für mich hat es sich schon angefühlt wie eine Ewigkeit“, sinniert Hawkins. „Aber Danny King ist schon im Team, seit er 16 Jahre alt ist. Wir haben uns vorher darüber unterhalten, wie viele Rennen er schon für den Verein bestritten hat, ohne das große Ziel zu erreichen – und wie höchstnötig es an der Zeit ist, dass es noch was wird, bevor er in Rente geht.“
Das Gespräch fand auf einem Golfplatz statt. Das langwierige Match auf dem noblen Grün gewann King überragend – was Hawkins insgeheim als gutes Omen für den Abend wertete.
Am Morgen danach schweifen die Gedanken ab, als im WhatsApp-Austausch zwischen Suffolk und dem Finger von Gate A36 am Flughafen Paris-Orly – wo der Flieger von Royal Air Maroc für den Recherchebesuch bei der Marathonrallye am Rande der Sahara wartet – der Titelgewinn noch Mal Revue passieren gelassen wird. Der Pokal, klimpert es aus Paris, sei doch sicher auch für den Vater?
Der nämlich ist vor einem guten Jahr an den Folgen einer langen Demenz gestorben.
Bei der textnachrichtlichen Unterhaltung sieht man die Reaktion des Gegenüber nicht. Aber man kann sie erahnen: Es klimpert zwar wieder schnell zurück, aber nicht ganz so flott wie üblich. Vielmehr dauert’s einen vielsagenden Moment der andächtigen Stille, bis es dann doch wieder klimpert. „Yes mate, sure he was with us last night…“
John Louis, der legendäre Tiger und liebende Vater, meint sein Sohn Christopher, hätte beim Finale ganz bestimmt von oben zugeguckt.
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