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„Wir sind Argentinier. Wir scheren uns nicht um Probleme“

Argentinien kehrt am Mittwochabend auf die große Bühne zurück. Die Gauchos sind die großen Außenseiter in Thorn – aber jetzt schon die Paarweltmeister der Herzen.


Gerade eben hat Fernando García sich noch den Schlaf aus den Augen gerieben. Doch kaum hat der 31-jährige Argentinier in seinem Airbnb-Quartier den Jetlag wieder abgeschüttelt, kann er auch schon wieder um die Ecke denken. „Man muss mit seinen Erwartungen vorsichtig sein“, philosophiert der Südamerikaner, „sonst werden aus Erwartungen schnell Enttäuschungen.“


García ist einer der drei Argentinier, die anstelle der an sich vorgesehenen US-Amerikaner im zweiten Hauptrundenrennen der Paar-WM im Feld stehen. Dabei ist Speedway im Moment in dem großen südamerikanischen Land eine Randsportart – spätestens seit die Rallye Dakar Station in Südamerika gemacht und die beiden Gebrüder Kevin und Luciano Benavides aus Salta als Nationalhelden hervorgebracht hat.


Argentinien hat eine lange Tradition im Speedway, Luis Alberto Vallejos und Claudio Rojas sind sogar in Deutschland bei großen Rennen an den Start gegangen. Nicolás Covatti und Emiliano Sanchez sind jeweils Halbitaliener, die auch in ihrer Heimat fuhren, Covatti fährt inzwischen für Italien. Jetzt kommen die Gauchos mit einer klaren Maßgabe zurück, García formuliert sie: „Wir wollen Argentinien wieder auf die Speedwaylandkarte bringen und unsere Youngster ermutigen, sich weiter und mehr zu engagieren.“


Denn in seiner Heimat, sagt der ehemalige England-Zweitligalegionär, gebe es zwar eine Reihe junger Fahrer, doch der Schritt in die große Halbliterklasse falle vielen schwer. „Dieses Jahr fuhren vier Argentinier in der Grand Prix-Qualifikation und zwei in der SGP4-Klasse. Bei den 125ern sind daheim vielleicht 25 bis 30 junge Fahrer dabei, bei den 250er noch mehr. Aber viele der Junioren können sich dann die 500er nicht mehr leisten.“


Die Gründe dafür verortet García in der allgemeinen wirtschaftlichen Lage seines Heimatlandes: „Wir haben als Nation einige finanzielle und wirtschaftliche Probleme. Deswegen kommen wir in dem Sport auch nicht richtig weiter. Wenn ein Reifen in Polen 65 Euro kostet, dann kostet er bei uns nach Einfuhrumsatzsteuer und allen anderen Kosten gleich schon mehr als 200 Euro. Wir haben viele Rohdiamanten als Fahrer. Deswegen konzentrieren wir uns auf diese Nachwuchsfahrer.“


Für mich ist das Speedway der Nationen vielleicht die letzte Chance. – Coty García

Denen möchten die älteren Drifter nun auch mit dem überraschenden Start beim Speedway der Nationen ein Vorbild sein. Deswegen hat sich eine kleine, aber höchst fidele Delegation bereits seit dem Wochenende in Europa zusammengefunden: Coty García mit seiner Familie und dem Funktionär Claudio Schmitt bei einem Zwischenstopp in Tornesch, denn er hat sich und seine Maschinen bei Kupplungspapst Holger Lund vorbereitet, ehe er am Sonntag weiter nach Bromberg und von dort nach Thorn reiste.


Die beiden Teamkollegen sind da bereits in Polen. Denn Cristian Zubillaga ist Mechaniker für den Italiener Paco Castagna und als solcher in England und Polen angesiedelt, Facundo Albin schraubt für den jungen Dänen Emil Breum. „Cristian kann auch im tiefen Dirt die Maschine im Drift halten – und wenn er sie Mal wieder einfangen muss, dann hat er dazu auch die Fahrzeugbeherrschung und die Kraft. Und er ist bereits seit drei Jahren als Mechaniker in Europa, er kennt also auch die Setups aus dem Effeff“, charakterisiert García seine Truppe. „Ich kenne aus meiner Zeit in England die britischen Bahnen, mir gefällt es, wenn die Außenbahn tief ist. Facundo ist bereits seit acht Jahren in Polen; er wohnt um die Ecke vom Stadion, aber ist ein wilder Hund und manchmal nur schwer zu kalkulieren oder zu bändigen.“


Facundo Albin ist Reservefahrer, García als Kapitän der Mann am Ruder, zusammen mit Claudio Schmitt als Teammanager haben die beiden ihren Fahrplan schon zurechtgelegt. Dazu gehört auch das Training in Bromberg, das eine Schneise ins Budget geschlagen hat. Die Mannschaft finanziert sich vollständig aus dem Preis- und Startfeld, das beim Speedway der Nationen ausgeschüttet wird. Die garantierten 10.000 Euro, die selbst das letztplatzierte Team kriegt, müssen langen: für die Flüge und die Reisekosten, das Material und den unbotmäßig teuren Trainingstag in Bromberg. Schon die Familienmitglieder von García sind auf eigenen Deckel nach Europa geflogen.


Fernando García bereitet bei Holger Lund in Schleswig-Holstein seine Motorräder vor. Foto: Holger Lund
Fernando García bereitet bei Holger Lund in Schleswig-Holstein seine Motorräder vor. Foto: Holger Lund

Coty García kennt den Profisport aus Jahren in Glasgow, Edinburgh und Berwick, bevor Corona ihn zurück in seine Heimat in Colonia Barón in der Pampa zwang. Dort baute er ein landwirtschaftliches Lohnunternehmen auf: „Mit drei Traktoren bewirtschaften wir 60.000 Hektar“, denn die riesigen Rinderfarmen in Südamerika warten mit anderen Dimensionen auf als in Europa, selbst als die ehemaligen LPG in der früheren DDR oder die Sowchosen und Kolchosen in der alten UdSSR.


Schon als 13-Jähriger hätte er sich als Betriebshelfer in der Landwirtschaft verdingt, dabei seine Leidenschaft für Landmaschinen entdeckt und nach Corona sein Lohunternehmen aufgebaut. Doch tief im Süden seines Herzens glimmt immer noch ein Fünkchen Hoffnung: „Ich habe den Gedanken noch nicht ganz aufgegeben, es wieder als Profi zu versuchen. Das Speedway der Nationen ist da die beste Chance, mich noch Mal zu beweisen – und womöglich ist es auch meine letzte Chance. Aber wenn sich etwas ergeben sollte, dann würde ich das Wagnis wieder eingehen.“


Bereits gestern Abend waren die blau-schwarzen Gauchos geschlossen im Stadion in Bromberg – und haben dort ihren Latinocharme und ihre von Enthusiasmus geprägte Laune versprüht. Die Südamerikaner legen eine einzigartige Mischung aus Ehrgeiz, gebotener Zurückhaltung und Spaß am Sport an den Tag, den man bei anderen Teams vermisst. „Wir wissen, dass viele Beobachter über uns lachen und uns nichts zutrauen. Aber wir sind Argentinier; wir scheren uns nicht um Probleme, wir kämpfen einfach um die Lösungen.“


So tun es auch die Vereine. „Wir haben sechs Bahnen, man baut gerade eine ganz neue in Punta Alta in der Nähe von Bahia Blanca“, verrät García. „Die Föderation hat einige Auflagen stellen müssen, die den Vereinen hohe Kosten aufgebürdet haben. Denn viele Klubs waren noch aufgestellt wie in den Fünfzigern und Sechzigern, mit Verschlägen aus Holzlatten als Bande. Carlo Schmitt hat da Trainingscamps für junge Fahrer organisiert, er ist quasi der Verbindungsattaché zwischen Verband und Vereinen. Aber ein Jahr in der Halbliterklasse kostet die Fahrer in Argentinien zwischen 20 und 30.000 Euro. Für die kleineren Klassen darf die Bahn nicht so tief sein, um die Kleinen und die jungen Fahrer nicht zu überfordern. Also sind die Bahnen alle so glatt, dass die großen Maschinen jeweils drei bis vier neue Reifen pro Veranstaltung durchbringen.“


Und allein das geht schon ins Geld, „wegen“, sagt García, „der verrückten Steuern, die wir auf alles zahlen.“


Unter Südamerikakennern gibt es ein geflügeltes Wort, es handelt vom enormen Potenzial, das im Lande Argentinier schlummere – und von dem unglückseligen Talent der dortigen Regierungen, immer genau dann wieder eine neue Wirtschaftskrise heraufzubeschwören, wenn der Aufschwung gerade wieder Mal am schönsten sei. Dieser ewige Kreislauf hausgemachter Probleme zieht sich durch bis in den Speedwaysport. „Jedes Mal, wenn unsere jungen Fahrer nach ihren Europagastspielen zurück nach Argentinien kommen“, fällt García auf, „sehen wir sofort, wie sich ihr Fahrkönnen wieder gesteigert hat.“


Darum sieht der 31-Jährige sein Team am Mittwochabend in der Pflicht, sich so teuer wie möglich zu verkaufen – um ein Leuchtfeuer für die nächste Generation zu entzünden und den Nachwuchs zu motivieren. „Claudio Schmitt hat eine Strategie entwickelt, wie unser Rennen sich entwickeln kann. Wenn er sieht, dass jemand mehr Zeit braucht, wird er den Reservisten reinbringen. Wir haben ein Rotationssystem. Wir versuchen, nach den besten Chancen für uns aufzustellen.“


Dabei ist ihm die Außenseiterrolle völlig klar. „Wir haben einige Pläne; ich habe jedes einzelne Rennen in Thorn seit 2013 bis zum Ekstraligafinale letzte Woche genau verfolgt. Aber wir haben auch ein altes argentinisches Sprichwort: ‚Du bist Besitzer deiner Zurückhaltung – aber ein Sklave deiner großspurigen Aussagen.‘“

 
 
 

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